Grauer Regenbogen

Morgenroutine

Die erste Bewegung des Morgens ist ein Ausweichen. Um vor der immer heller werdenden Sonne zu flüchten zieht Lana sich die Decke über den Kopf und versucht so den Tag und die ganze Welt von sich auszusperren. Eine weiche Mauer zwischen sich und der Tatsache, dass sie heute Abend eine Künstlerin sein muss. Aber unter der Decke ist es stickig und sie hat nur noch mehr das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Mit einem Keuchen schiebt sie die weiche, viel zu große Decke von sich herunter und ergibt sich dem Tag. Das Sonnenlicht drängt sich durch die schiefen, halb geschlossenen Jalousien, vorbei an der Tasse mit kaltem Kaffee vom Vortag bis zu ihr als würde es sie unbedingt erreichen wollen. Das Licht kommt an, aber die Wärme bleibt auf der Strecke.

Ein Blick auf den Digitalwecker neben ihrem Bett verrät ihr, dass es 17 nach 10 ist. Eine Kurze Nacht. Ihr träger Versuch aufzustehen gipfelt darin, dass sie nun zehn Zentimeter näher an der Bettkante liegt, auf dem Bauch, das Gesicht halb in einem der vielen Kopfkissen vergraben. Es riecht staubig, nach kaltem Schweiß und vielleicht ein wenig Resthoffnung.

Heute ist die Ausstellung.

Allein der Gedanke daran löst ein Chaos an Gefühlen aus die dafür sorgen, dass sie lieber hier liegen bleiben würde. Der Magen, der sich vor Angst zusammen zieht. Der Hals, der einen hoffnungsvollen Klos hat. Druck. Wegen drei Bildern an einer grauen Wand. Die Kuratorin der Galerie war nett. Jung, ambitioniert und voller Optimismus. Ein bisschen zu viel für Lana. An anderen Tagen hätten sie vielleicht Freunde sein können. Es ist eine Sammelausstellung, lokale Künstler aus dem Viertel. Vermutlich nicht das richtige für ihre Bilder. An anderen Tagen hätte sie sie ganz ok gefunden, heute sind sie ungenügend. Aber sie hängen da. Seit Gestern. Ein Zeichen, dass sie existiert, dass sie etwas macht.

Etwas was sie zeigen kann. Oder muss.

Sie versucht sich abzulenken, zählt die Geräusche ihrer Wohnung. Das knacken in der Decke, das Brummen des Kühlschranks, der leise Verkehr vor dem Haus. Es hilft nicht. Ihr Magen beschwert sich, aber sie will nichts essen. Der sanfte Schmerz des leeren Magens tut gut. Lenkt ihre Gedanken aus ihrem Kopf zu ihrem Bauch.

Sie versucht sich aufzuraffen, dreht sich auf den Rücken. Ihr Bein berührt etwas, ein lautes Klatschen. Lana zuckt erschrocken zusammen. Ihr Zeichenblock, vermutlich. Ziemlich sicher. Sie konnte nicht einschlafen. Wie so oft. Sie zeichnete im Bett. In der Dunkelheit, nur sie und ihre Gedanken. Keine gute Mischung, aber eine kreative. Bis vier? Oder fünf? Bis sie zwar nicht müde, aber erschöpft war. Und der traumlose Schlaf kam.

Ihr Bein hängt über das Bett, berührt den abgelaufenen Dielenboden, ihre Zehen spüren die abblätternde Farbe. Irgendein Vormieter hatte das schöne Holz Weinrot gestrichen. Viel war davon nicht übrig. Der Kontakt mit dem Boden erdet sie. Sie will das nicht. Es zieht sie in den Tag, zur Arbeit, Pflichten. Zur Ausstellung und Menschen denen sie ihre Kunst erklären muss. Ihr Gekritzel.

Vielleicht fällt das heute alles aus. Denkt sie hoffnungsvoll. Vielleicht ist das Wetter zu schlecht. Oder zu gut. Oder ein Stromausfall. Oder Krieg. Sie fühlt sich schlecht bei dem Gedanken. Aber nur ein wenig.

Sie presst ihre Augen zu.

Und dann kommt der Gedanke, der alles schlimmer macht. Der Grund für ihre Schlaflose Nacht. Wird Kathlyn da sein?

Sieben Monate ist die Trennung jetzt her. Sieben Monate hat sie sie nicht gesehen. Nicht direkt. Auf Events taucht sie seltener auf. Bei ihren letzten beiden Ausstellungen hat sie Lana nicht die Luft zum Atmen genommen.

Zwei Mal.

Ein winziger Rekord.

Vielleicht hat sie endlich aufgehört. Vielleicht hat sie die Lust daran verloren Lana klein zu treten, wann immer sie sich aus den Schatten traut. Vielleicht ist ihre neue Freundin aufregender, bunter, funktionaler. Nicht vielleicht, ganz sicher. Kathlyn hat daran keinen Zweifel gelassen. Lana hat es kaputt gemacht. Sie war zu emotional abhängig, zu einengend, zu toxisch. Kathlyn hatte versucht sie zu retten und sie hatte es kaputt gemacht. Sie verstand noch nicht ganz was sie falsch gemacht hatte aber ihre Freunde hatten Kathlyn recht gegeben. Vielleicht war es also endlich vorbei und Kathlyn lebte ihr leben weiter.

Anderseits.

Warum sollte sie ausgerechnet heute nicht auftauchen?

Sie stellt sich vor wie Kathlyn dort steht, vor ihren Bildern – mit einem Glas Prosecco, einem Lächeln wie eine Rasierklinge, und diesem Tonfall, den alle sofort für Ironie halten, obwohl er nur pure Verachtung ist. “Oh – du malst noch? Wie schön.”, als würde man mit einem Kleinkind reden, “Ich dachte du wärst jetzt bei Tarotkarten angekommen.” Lana zieht die Decke wieder fester an sich und hebt den Fuß vom Boden. Ihr Herz schlägt unglaublich laut obwohl nichts passiert ist. Nichts. Noch nicht.

Und dann ist da dieser andere Gedanke. Einer, der sich von ganz hinten in ihrem Kopf nach vorne drängt, wie ein Fremdkörper.

Vielleicht ist es egal. Vielleicht ist das, was ich da zeige, sowieso nur Gekritzel. Vielleicht ist es sogar gut, wenn Kathlyn es zerreißt. Dann muss ich wenigstens nicht mehr so tun, als hätte es Bedeutung.

Sie hasst diesen Gedanken. Und sie glaubt ihm trotzdem.

Um sich nicht weiter selbst zu hassen steht sie lieber auf. Sie hebt den zerknitterten Zeichenblock auf und legt ihn neben den Wecker. Dann schlägt sie die fünf Kopfkissen auf und drapiert sie ans Kopfende. Das Bett zu machen bedeutet Kontrolle über ihr Leben zu haben. Ordnung in das Chaos zu bringen und das Gefühl zu haben normal zu sein. Jeder macht sein Bett, nur Leute die aufgegeben haben lassen es unordentlich. Und sie hat nicht aufgegeben. Noch nicht. Sie greift die Bettdecke, zwei Meter zwanzig breit, und schlägt sie auf. Ihr Kugelschreiber fliegt durch den Raum und fällt klimpernd auf den Boden. So viel zur Kontrolle. Sie lässt die Decke liegen und geht zum Kugelschreiber um ihn aufzuheben und zu ihrem Zeichenblock zu legen. Damit drückt sie ein paar mal auf den Knopf und hört sich das beruhigende Klacken and wenn die Miene herausfährt und wieder rein. Dann auf ein neues. Sie schlägt die Decke auf, lässt sie wie ein Leichentuch über das große Familienbett, in dem sie jede Nacht alleine liegt, niedergleiten und streicht es glatt. Eine passende Metapher. Vielleicht denkt sie noch so oft an Kathlyn weil sie dieses Bett gekauft hat. Nach einem Streit weil Lana ihr gesagt hatte, dass sie unglücklich damit sei, dass sich dauernd mit dieser Frau aus dem Theaterbereich treffe. Kathlyns neue Freundin. Kathlyn hatte erwidert, dass sie einfach nicht monogam fühlen könne und Lana hatte ihr vorgeworfen sie zu betrügen. Kathlyn hatte sie rausgeworfen und sich eine Woche nicht bei ihr gemeldet. Dann hatte sie ihr diese Bett geschenkt. Um ihr zu zeigen, dass sie sie lieben würde, auch wenn sie immer so emotional und anhänglich sei. Vermutlich war es nicht gut das Bett zu behalten. Aber ein neues war Teuer, und ihr fehlte das Geld. Ihr fehlte immer das Geld. Deswegen hatte Kathlyn so viel bezahlt. Auch viele ihrer Tattoos. Viele nach einem Streit. Weil sie sie trotzdem liebte. Kathlyn war ihr wortwörtlich unter die Haut gegangen.

Sie riss sich von ihrem Gedanken los und wandte sich von Kathlyns Bett ab.

Vielleicht war es Zeit doch etwas zu essen. Funktionierende Menschen taten so etwas nach dem Aufstehen. Ihre Altbauwohnung war nicht groß. Das Bad und ihr großes Zimmer mit kleiner Kochnische. Trotzdem fühlte es sich nicht wie Zuhause an. Ihr Zimmer wirkte leer und chaotisch zugleich. Die Möbel waren bunt zusammengewürfelt und die Pflanzen passten auch nicht so ganz ins Bild. Vielleicht weil sie immer wieder eingingen und sie deswegen neue kaufen musste.

Im Bad sah drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht um wach zu werden. Es klappte nicht wirklich. Ein Blick in den Spiegel verriet, dass sie noch immer Augenringe hatte. Seit sie sechzehn war. Vermutlich gehörten sie einfach zu ihr. Ihr dunkelbraunes Haar hatte schon fast wieder ihre Schultern erreicht, vermutlich sollte sie es mal wieder schneiden. Wenn sie sich endlich trauen würde sie richtig kurz zu schneiden könnte sie auch die letzten Reste rötliches Haar abschneiden die von ihrer Haarfärbung übrig waren. Aber sie war sich nicht sicher, ob ihr eine Kurzhaarfrisur stehen würde.

Wenigstens würden die misslungenen Haare und die Augenbrauen von ihren restlichen Mängeln ablenken. Unreine Haut, zu große Ohren, zu kleine Brüste und dünne Arme. Sie wand ihren Blick vom Spiegel ab und besah sich stattdessen ihre Blumen-Tattoos auf den Armen. Viele hatte sie schon vor Kathlyn gehabt. Sie hatte sie selbst gestaltet, aber leider waren es nur die Konturen. Das Geld um sie in Farbe zu stechen zu lassen hatte sie nie gehabt. Trotz der Freundschaftspreise, die sie bekam weil sie für den Tätowierer oft umsonst Entwürfe zeichnete. Wenn sie es sich leisten könnte würde sie ihren ganzen Körper tätowieren lassen, in bunten Farben, bis sie hinter den Motiven ganz verschwand.

Vielleicht war das auch der Grund, warum sie immer noch an das Märchen vom Entdecktwerden glaubte. Warum sie trotz aller Zweifel weiter zeichnete. Weil sie gesehen hatte, dass es möglich war.

So wie bei Lara.

Lara hatte es geschafft …


Lara war wie sie gewesen. Oder sie wie Lara? Keine Ahnung mehr. Beide haben gezeichnet, gefeiert, geraucht, sich selbst gesucht. In ihnen war das gleiche Chaos, aber ihre Kunst war unterschiedlich. Zumindest am Anfang. Irgendwann änderte sich Laras Kunst, wurde ein Spiegelbild von Lanas.

Und dann wurde sie entdeckt.

Plötzlich gehörte alles was Lana wollte Lara. Erfolg. Anerkennung.

Und Lanas Bilder sahen aus wie billige Kopien.

Lara hat es nie aufgeklärt.

Lana macht den Fehler sie darauf anzusprechen.

Lara schweigt. Verschwindet aber bleibt präsent – in Magazinen, auf Plakaten, Instagram.

Lara lebt im Rampenlicht. Für Lana bleiben nur die Schatten.


Sie springt unter die Dusche und lässt das heiße Wasser auf sich nieder prasseln. Fast zu heiß, also genau richtig um ihre Gedanken aus dem negativen zu ziehen. Sie duscht lange. Vermeidet es in Richtung des großen Spiegels über dem Waschbecken zu gucken um sich nicht selbst sehen zu müssen. Inmitten des prasselnden Wasser ist es fast als wäre sie körperlos. Und das ist fast als würde man nicht existieren. Sie trocknet sich ab und schminkt sich dann. Nur ein wenig. Weil man das eben so macht.

Dann zieht sie ein schlichtes, schwarzes Sommerkleid and und geht in ihre Küche. Sie schmiert sich ein Brot. Erdnussbutter und Marmelade. Ein langweiliger Klassiker aber er macht wirklich glücklicher. Während man ihn isst. Das Geschirr stellt sie in die Spüle, dafür ist morgen auch noch Zeit. Während sie Kaffee kocht zieht sie die Jalousien nach oben und öffnet das große Fenster um sich auf die Fensterbank zu setzen und eine zu Rauchen. Der Verkehr ist jetzt lauter, aber die Luft ist noch nicht so abgestanden. Vermutlich wird es heute noch wärmer. Sie holt ihr Handy raus und schaut auf die Wettervorhersage. Neunundzwanzig Grad, in der Nacht Regen und Gewitter. Das Wetter ist also zu gut und zu schlecht. Wie passend. Sie liked ein paar Stories, schreibt ein paar Nachrichten mit Leuten zu denen sie nur aus Gewohnheit Kontakt hält und die sie nie getroffen hat.

Als ihr Kaffee fertig ist sind es zwei Zigaretten geworden. Sie füllt sich einen Thermosbecher, keine Ahnung wo sie ihn her hat. Dem Aufdruck nach überteuert von irgend einem Festival. Ihre Zigaretten packt sie in ihre Handtasche. Und Flyer. Für die Ausstellung heute Abend. Die Galeristin hatte sie gebeten sie an ihre Freunde zu verteilen. Hat sie nicht. Sie will versuchen sie Fremden in der Innenstadt zu geben.

Mit einem letzten, wehmütigen, Blick in ihre Wohnung schließt sie die Tür und geht.

Wegfindung

Es ist hell und alles wirkt dadurch irgendwie realer. Aber nur am Anfang. Mit jedem Schritt, den sie sich von ihrer Wohnung entfernt und dem Tag entgegen geht wirkt es so als würde sie durch einen Traum wandeln. Das Licht überzeichnet alles, auch die Menschen. Die Gehwege sind voll, aber irgendwie fühlt Lana sich allein. Es liegt an den Flyern. Sie machen ihre Tasche schwer und ihre Schritte langsam. Eigentlich sollte sie sie verteilen, sie den Menschen um sich herum in die Hand drücken. Sie greift in in ihre Tasche und greift nach dem Papier. Es fühlt sich ein wenig nach Hoffnung an. Sie nimmt ein paar Flyer und hält sie an ihre Brust, wie ein Schild zwischen der Welt und ihrem Herzen. Ein sehr dünnes Schild auf dem eine Einladung in ihr Innerstes gedruckt ist. Sie traut sich nicht sie zu verteilen. An einer Straßenecke wird sie langsamer und bleibt neben einer Litfaßsäule stehen. Ein Mosaik aus überklebten Konzertplakaten, Anarcho-Stickern und Eventankündigungen von vor zwei Monaten. Ihr Flyer wird dazwischen gar nicht auffallen. Lana holt das doppelseitige Klebeband aus ihrer Handasche und zögert kurz. Was bringt das? Wer geht da schon hin, nur weil ich ein Blatt Papier aufhänge? Sie klebt den Flyer trotzdem hin. Etwas schief. Sie macht einen Schritt zurück und begutachtet ihr Werk. Der Flyer sticht hervor. Das gefällt ihr nicht. Sie hat ihn selbst entworfen: Minimalistisch. Schwarzweiß. Titel: fragmente.

Der Name fühlt sich falsch an. Oder zu ehrlich. Sie ist nicht sicher, was schlimmer ist.

Sie schafft es drei weitere zu verteilen. Stromkästen und ein Bücherregal am Straßenrand. Eine alte Frau spricht sie an, fragt nach dem Weg zur nächsten U-Bahn. Lana umklammert die Flyer als würde man sie ihr wegnehmen wollen und erklärt ihr höflich den Weg.

Eine Gruppe junger Leute in Second-Hand-Klamotten geht an ihr vorbei, laut lachend mit Skateboards unter den Armen. Einer von ihnen mustert sie kurz. Nicht abwertend, nur so, als fragte er sich: Gehört sie zu uns?

Tut sie nicht. Nicht zu ihnen. Nicht zu irgendwem.


Lana war vieles. Oder hat es versucht.

Für ein paar Monate war sie Goth. Schwarze Kleidung, silberne Ketten und dunkles Make-up. Nächte in Kellerbars, düstere Gedichte und Melancholie. Aber sie war zu still. Zu ernst. Zu wenig Ironie. Sie passte nicht rein und das viel auf. Als sie die mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen konnte kam sie nicht mehr.

Dann war sie kurz DIY-Feministin. Sticker, Zines, Plena. Alles theoretisch korrekt. Aber sie fühlte sich an wie eine Touristin. Die Wut war da, ja – aber sie kam nicht aus Politik, sondern aus Schmerz. Und das war falsch, oder zumindest peinlich.

Ein halbes Jahr lang queere Techno-Ästhetin. Netzstrumpfhosen, Neonfarben, Raves und Drogenversuche. Aber sie vertrug nichts. Nicht die Substanzen. Nicht den Druck sich fallen zu lassen. Nicht das Gefühl, dass alle anderen irgendetwas verstanden hatten, das ihr fehlte.

Immer war sie zu viel oder zu wenig. Zu weich. Zu kontrolliert. Zu leise oder zu direkt. Ihre Körpersprache verriet sie immer – jemand, der spielt, aber nicht dazugehört.

Vielleicht war sie ihre eigene Subkultur.


Die Erinnerung tut weh. Aber Schmerz ist gut. Hält sie am Boden.

Sie klebt noch einen Flyer an einen Laternenpfahl und geht schnell weiter bevor sie jemand etwas fragt. Jeder Flyer fühlt sich an als würde sie eine Schutzschicht um ihre Seele entfernen. Fünf Flyer. Für ein paar Millionen Menschen. Das muss reichen. Sie verstaut die restlichen Flyer in ihrer Handtasche. Sind es mehr geworden?

Jetzt ist es früher Nachmittag. Sie hat drei Stunden totzuschlagen, bis sie zur Galerie muss. Und sie weiß nicht, wohin mit sich.

Sie könnte wieder nach Hause. Aber sie weiß, dass sie dann nicht mehr gehen wird. Sie sieht ein kleines veganes Café, dass ihr bekannt vorkommt. Sie war einmal mit einer Bekanntschaft hier. Die Bedienung ist eine andere. Gut so.

Sie bestellt sich einen Espresso, obwohl ihr Kaffee noch nicht leer ist. Aber sie findet es unhöflich und stellt den Thermosbecher auf den Boden. Zwei andere Gäste trinken aus ihren Bechern. Sie schaut eine halbe Stunde auf ihr Handy, ohne es zu entsperren. Trinkt ihren Espresso. Ein Tropfen nach dem anderen. Sie hat Zeit.

Ab und zu greift sie in ihre Tasche und fingert an den Flyern herum, überlegt ob sie jemanden anschreiben soll. Dann lässt sie es. Die Liste mit Menschen, denen sie nicht mehr schreiben darf, ist länger als die mit Menschen, die antworten würden.

Sie verbringt die Zeit mit Nichtstun, bestellt einen zweiten Espresso als ihrer leer ist. Keine gute Idee, sie wird wieder nicht schlafen können. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus.

Bevor sie geht, steckt sie einen letzten Flyer in ein Magazin, dass in dem Café ausliegt. Kunstkram. Niemand wird ihn sehen.

Aber für eine Sekunde fühlt es sich gut an. Ich bin da. Ich hab was gemacht. Ich versuche es noch.

Sie bezahlt und geht.

Noch eine halbe Stunde. Sie könnte zu Fuß gehen, aber es wäre knapp und wenn sie zu spät kommt fällt sie auf. Lieber die U-Bahn.

In der Haltestelle ist es fast kalt, vom Sommer über der Erde ist hier noch nicht viel angekommen. Die Bremsen der Bahn quietschen unangenehm als sie zum stehen kommt und die Türen knallen zu laut. Lana ist aufgedreht und alles ist intensiver. Der Espresso oder die Aufregung? Macht vermutlich keinen Unterschied. Der Wagen ist halb leer. Sie sucht sich eine Platz am Fenster. Wenn sie raus schaut muss sie niemand anderen ansehen. Und sie wird seltener angesprochen.

Es ist eine ältere Bahn. Die Sitze aus kratzigem Stoff, die Fenster schon vergilbt. Das rattern der Räder ist gedämpft – es wirkt als würde die Zeit hier anders ticken.

Sie versucht sich klein zu machen. Knie aneinander gepresst, Handtasche und Thermosbecher an die Brust gedrückt. Ihre Schläfe lehnt an der kühlen Scheibe und sie kann das Wummern der Bahn im ganzen Körper spüren.

Die Haltestellen fließen vorbei wie Gedanken. Und ihre Gedanken fließen mit.

Zurück zu einer Zeit als alles noch einfacher war.

Als alles Anfing.


Sie erinnert sich an einen Wintermorgen, sie war vielleicht zehn. Draußen Schnee, drinnen Stille. Ihre Mutter war schon zur Arbeit, ihr Vater noch im Schlafzimmer. Kater vom Vorabend. Lana saß am Küchentisch, in einem dieser weiten Schlafshirts, und zeichnete mit Kugelschreiber auf eine alte Stromrechnung.

Kein Motiv. Nur Linien, Muster, Kringel, dann Gesichter, halbe Körper.

Kleine Katastrophen.

Damals hatte sie noch kein Wort dafür. Keine Kategorie.

Es war einfach etwas, dass sie tun musste.

Wenn sie nicht zeichnete wurde alles zu laut. Zu scharfkantig.

Ihre Mutter sagte immer: “Kind, du verschwendest Papier.”

Ihr Vater sagte: “Wenigstens ist sie still.”

Sie war ein stilles Kind. Aber nicht freiwillig.

Still wie ein Tier, dass gelernt hatte, dass Bewegung bedeuten konnte gefressen zu werden.


Sie wurde älter. Aber es änderte sich nicht viel.

In der Schule war sie “die mit den dunklen Rändern unter den Augen”.

Die, die in den Pausen zeichnete. Oder las. Oder einfach nur dalag und dachte.

Manchmal zeichnete sie auch im Unterricht, bis es dem Lehrer auffiel.

Freunde hatte sie manchmal - vorübergehend. Bis sie zu intensiv wurde. Zu ehrlich. Oder zu leer.

Ein Lehrer sagte mal: “Du hast Talent. Aber du musst auch etwas sagen mit deinen Bildern.”

Sie hatte genickt.

Aber innerlich dachte sie: Ich sag schon alles. Ihr hört es nur nicht.

Einmal, in der neunten Klasse, wurde eines ihrer Bilder im Schulflur ausgehängt. Ein Mädchen mit aufgeschlitzten Gesicht, aus dem Blumen wuchsen.

Ein paar Mitschüler fanden es “krass”. Eine Lehrerin fand es “Besorgniserregend”.

Sie selbst …

Sie hatte sich zum ersten Mal gesehen gefühlt. Für drei Tage. Dann war das Bild verschwunden.

Und niemand sprach mehr darüber.


Das quietschen der Bahn riss sie aus ihrem Gedankenkarussell.

Es fühlt sich an als wäre sie damals mehr gewesen als jetzt.

Oder vielleicht nur: weniger ängstlich. Weniger zerbrochen.

In einer Welt, die sie nicht verstand, hatte sie wenigstens noch geglaubt, dass es irgendwo einen Ort gibt, an dem sie passen würde.

Heute weiß sie es besser. Es gibt keinen Ort. Nur kurze Momente, in denen man nicht ganz fehl am Platz ist.

Die Durchsage ruft knisternd ihre Haltestelle auf.

Sie atmet einmal tief durch und steht auf.

Es ist nicht weit bis zur Galerie. Ein kleiner Hinterhof, eine Querstraße entfernt. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie noch ein wenig Zeit hat. Noch ein wenig langsamer gehen kann.

Der Hinterhof ist umgeben von alten, weißen, Gebäuden. Hohe Fenster und Stuck der von einer anderen Zeit erzählt. Die Kieselsteine unter ihren Schuhen knirschen bei jedem Schritt und Lana hat das Gefühl jeder müsste es hören.

Die Tür steht offen. Stimmen, Musik, das Klirren von Gläsern sickern nach draußen.

Es ist nicht viel los. Vielleicht dreißig Leute. Vielleicht weniger. Zu viele.

Und zu früh. Ein Blick auf ihre Uhr verrät ihr, dass sie zu langsam gegangen ist: 18:02.

Du bist hier, weil du eingeladen wurdest. Du hast hier Bilder. Du hast das Recht hier zu sein.

Trotzdem fühlt es sich an, als würde sie einbrechen.

Aber sie kann nicht mehr weg. Und gerade will sie auch nicht. Vielleicht wird es ja gut?

Ihren Thermosbecher lässt sie draußen. Auf dem Boden, hinter einem Pflanzenkübel versteckt. Sie hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Mit Glück ist er später immer noch da.

Sie betrachtet sich in einer schmutzigen Fensterscheibe. Zieht an ihrem Kleid. Streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

Sie atmet einmal flach ein – und tritt ein.

Tu wenigstens so, als würdest du dazugehören.

Kunst

Innen ist alles hell. Zu hell. Es ist dieses kalte, weiße Licht, das jeden Hautfehler sichtbar macht. Und jeden Fehler in ihren Bilder verstärkt. Der Boden ist poliert und jeder fünfte Schritt quietscht unangenehm laut. Auch bei anderen Menschen – das ist gut, so fällt es niemanden auf. Am Eingang steht ein kleiner Tisch mit Gläsern und billigem Wein und einem Kellner, der vermutlich noch in die Schule geht.

Lana geht schnell an ihm vorbei.

Die Luft ist ein wenig stickig und erfüllt von Gesprächen, die klüger klingen wollen als sie sind. Sie ist es gewohnt. Kunst gibt Menschen das Gefühl dumm zu sein, weil sie sie nicht verstehen. Und dann erfinden sie einfach Bedeutungen und Künstlerintentionen um sich wieder schlau zu fühlen. Lana mag das. Es macht die Menschen menschlicher und weniger einschüchternd.

Sie steuert direkt auf ihre Bilder zu. Keine Umwege.

Eine leere graue Wand. Und in der Mitte ihre drei Bilder.

Sie wirken kleiner, als sie sie in Erinnerung hat. Flacher. Bedeutungsloser. Als würden sie hier nicht hergehören.

Lana bleibt stehen, wie angewurzelt. Dann zwingt sie sich langsam zur Wand zu gehen. Sie bleibt vor ihren Arbeiten stehen.

Vielleicht denkt so niemand, dass ich dazugehöre. Vielleicht denkt man dann, ich wäre einfach jemand, der die Bilder anschaut.

Unter den Bildern sind kleine Kärtchen mit dem Titel des Bildes, dem Namen des Künstlers und einer Jahreszahl.


Blüte — Lana Rosenthal, (2024)

Das Bild aus ihrer Kindheit. Und ein wiederkehrendes Motiv in ihrem Leben.

Das weibliche Gesicht ist älter geworden. Gleicht ihrem nun mehr.

Ein gezackter Riss zieht sich von der Stirn bis herunter zum Kinn und aus dem inneren des Kopfes sprießen filigrane Blumen, Disteln und Wurzeln hervor.

Die Augen sind leer und sie scheint selig zu lächeln.


Heimlich — Lana Rosenthal, (2021)

Eine eine angedeutete Kinderzimmertür. Offen. Beklebt mit Stickern. Dahinter nur Schatten.

Auf dem Fußboden liegt eine Puppe. Ein einzelner Schuh. Ein zerknitterter Zettel mit einem Durchgestrichenen Namen. Lana.


Innenstimmen — Lana Rosenthal, (2024)

Ein menschlicher Oberkörper. Männlich. Aber der Kopf ist nur eine Kontur. In ihm sind viele kleine Figuren. Drücken gegen die Kontur, kauern sich zusammen, schreien und flüstern. Es ist chaotisch, wie ein Wimmelbild. Jeder macht etwas anderes. Alle sind gefangen.


Während sie ihre Bilder betrachtet kommen andere Menschen. Schauen sich ihre Bilder an. Bewerten sie.

So gut wie Niemand versteht sie.

Ein Mann behauptet Blüte stehe für die Schönheit im Inneren.

Eine Frau sagt, mit Heimlich habe die Künstlerin den Missbrauch durch ihren Vater verarbeitet.

Eine andere hält Innenstimmen für ein Stillleben aus Selbstverlust.

Nur eine von ihnen hat recht.

Lana starrt ihre Bilder an. Vielleicht sind sie ja doch ganz in Ordnung. Bringen die Menschen zum Nachdenken.

Der Abend wird erträglicher. Sie geht ein wenig herum. Schaut sich andere Bilder an. Manche besser als ihre, manche anders.

Immer wieder kehrt sie zu ihren Bildern zurück.

Sie nimmt sich sogar ein Glas Wein, wird lockerer.

Doch dann riecht sie es.

Das Parfüm.

Ein Geruch, der sich wie eine kalte Hand um ihren Nacken legt.

Dann ein leises Lachen. Und ein Satz, laut genug, dass er nicht zufällig gesagt wurde:

“Ach, guck, da ist ja unsere kleine Frida Kahl-NO.”

Lana dreht sich nicht sofort um.

Aber sie spürt, wie sich alles in ihr zusammenzieht. Der Magen, die Kehle, der Atmen.

Eine Falte aus Glas in ihrem Inneren.

Dann sieht sie sie.

Kathlyn.

Schulterfreies Top, Statement-Ohrringe, blondes Haar und Rotwein in der Hand. Ein Lächeln wie ein Messer.

Und dieser Blick.

Nicht direkt auf Lana. Sondern durch sie hindurch, wie durch eine Glasscheibe, auf die man absichtlich nicht fokussiert.

Neben ihr: Zwei andere Leute, die lachen, obwohl sie den Witz nicht verstanden haben. Aber es reicht ja, wer ihn gesagt hat.

Lana versucht zu lächeln. Es klappt nicht.

Sie fühlt sich, als würde sie einen Körper tragen, der nicht ihrer ist. Zu groß, zu sichtbar, zu falsch.

Kathlyn geht, gelangweilt von der ausbleibenden Reaktion. Sie wird wiederkommen.

Lana stellt sich zurück an die Wand, direkt vor ihr eigenes Bild, Blüte.

Jetzt wirkt es wie ein Witz.

Sie schaut auf den Boden. Dann auf ihre Schuhe. Dann auf die Wand neben sich. Alles außer die Menschen.

Vielleicht, wenn ich ganz still bleibe, sieht man mich nicht.

Sie wünscht sich eine Zigarette, einen Drink, einen Ausgang, eine Zeitmaschine.

Aber sie bleibt.

Wie ein Fehler, der sich nicht rückgängig machen lässt.

Es dauert nicht lange bis Kathlyn wieder kommt. Sie ist nicht wegen den anderen hier. Nur wegen ihr.

“Immer noch deine alte Masche, was?”

Kathlyns Stimme schneidet scharf und süßlich, wie überreifes Obst.

“Ein bisschen Trauma auf Papier, ein paar verstörende Kritzeleien, und alle glauben, du wärst tiefgründig. Dabei bis du nur … hohl.”

Lana sagt nichts.

Sie sieht an Kathlyn vorbei. An den anderen vorbei. An sich selbst vorbei.

Sie dissoziiert.

Trotzdem spürt sie noch das Brennen. In den Wangen. In der Brust.

Und schlimmer noch. Sie spürt, wie sehr sie sich wünscht, dass Kathlyn aufhört – nicht weil es wehtut, sondern weil es noch immer zählt.


Sie erinnerte sich.

Daran, wie Kathlyn sie das erste mal angesprochen hatte. In einem Café. Als sie gerade versuchte nicht aufzufallen während sie in ihr Skizzenbuch malte.

“Du zeichnest? Zeig mal. Aber bitte keine Elfen.”

Lana hatte gelacht. Das war selten.

Kathlyn hatte alles gesehen, sofort. Die Risse, die Makel, und den Wunsch gesehen zu werden.

Sie tauschten Nummern, schickten sich Sprachnachrichten um 3 Uhr morgens. Kathlyn gab ihr das Gefühl etwas besonderes zu sein.

Dann kamen die Regeln.

Die unausgesprochenen: Wen sie sehen durfte. Was sie posten sollte. Wie viel Nähe zu viel war.

Es war nie direkt, die laut. Nur ein Tonfall. Eine hochgezogene Augenbraue. Ein plötzlicher Rückzug.

Wenn Lana sich wehrte, wurde Kathlyn weich. Dann kamen die Entschuldigungen. Die kleinen und großen Geschenke. Die Nächte in denen sie Lana hielt und ihr sagte. “Niemand versteht sich außer mir.”

Lana hatte das geglaubt.

Nicht, weil sie dumm war – sondern weil sie so verdammt hungrig war nach diesem Gefühl.


Lana ist zurück im jetzt. Obwohl sie nicht will.

Kathlyn steht jetzt näher, lehnt sich fast an sie.

Flüstert: “Weißt du noch, wie du mir mal gesagt hast, ich wäre die Einzige, die dich sieht?”

Natürlich erinnert sie sich.

“Ich sehe dich. Und du siehst echt erbärmlich aus, wenn du dich so ausstellst.”

Ein Lachen hinter Kathlyn.

Lana spürt, wie etwas in ihr bricht.

Nicht mit Schmerz, sondern mit Erlösung. Ein Gefühl was sie viel zu lange gefesselt hat.

Ich hätte dich lieben können. Ich dachte, ich hätte. Jetzt bin ich frei.

Sie spürt sich kaum noch. Nur ihre Füße. Den Boden. Das Zittern in den Händen.

Sie schaut nicht mehr auf.

Sie steht da, zwischen den Bildern, als Teil der Wand.

Und fragt sich, ob man weinen kann, ohne das es einer sieht.

Kathlyn lacht und dreht sich zu ihren Freunden um.

“Ich mein … das ist schon süß. So roh. Lina malt, als würde sie sich selbst häuten. Ich schätze, das ist halt ihre Therapie.”

Gelächter.

“Ich hab das ja ein Jahr mitgemacht. War … lehrreich.”

Eine Kurze Pause in der sie Kathlyns Blick wieder auf sich spürt.

“Manchmal will man halt etwas komplexes retten. Und merkt zu spät, dass es einfach kaputt ist.”

Lana sagt nichts. Ihr Glas ist leer, aber sie traut sich nicht sich zu bewegen.

“Interessante Arbeit,” sagt jemand – ruhig, bestimmt. In einem Ton, der Aufmerksamkeit verlang.

Die Worte zielen auf Lanas Bilder, aber sie treffen Kathlyn.

Lana hebt den Kopf.

Die Frau steht da als würde ihr der Raum gehören. Schwarzer Hosenanzug, kurz geschnittene schwarze Haare, Lippen in einem Ton zwischen Weinrot und Mordabsicht.

Nicht übertrieben, aber gezielt.

Sie sieht sich das Blütenbild an. Neigt leicht den Kopf.

“Zart und brutal zugleich. Das hat Gewicht. Ästhetisch kontrollierter Kontrollverlust.”

Kathlyn reagiert zuerst mit einem halben Lachen, das wie eine Reflexreaktion klingt.

“Das Blumen-Face? Ja, das ist von ihr.” Sie nickt halb zu Lana. “Sie ist … sagen wir, experimentell.”

Die Frau dreht sich nicht ganz, nur leicht zur Seite.

“Ach?” Ein Lächeln, dünn wie eine Rasierklinge. “Und wer sind sie? Die Kuratorin? Die Fußnote?”

Ein kurzes Schweigen. Kathlyn blinzelt.

“Ich … ich bin mit der Künstlerin bekannt.”

Lana ist fasziniert. Versteht aber nicht was gerade passiert.

Was sie versteht, ist das die Fremde ihr Bild verstanden hat. Das sie die Frau ist, die vorhin Innenstimmen verstanden hat.

Sie beobachtet die Szene wie gefesselt.

“Wie schön. Und trotzdem sprechen sie über sie, als wäre sie nicht hier.”

Antwortet die Fremde. Ihre Stimme ist weich.

Lana merkt erst jetzt, dass der ganze Raum stiller geworden ist. Zwei Gäste schauen neugierig herüber.

Kathlyn fällt auf, dass sie empört sein sollte.

“Sorry, wer bist du?”

Es wirkt kindisch, und ihr Gesicht verrät, dass sie es weiß.

“Jemand, der sich ungern Menschen beim sterben ihrer Selbstachtung ansieht. Und jemand, der erkennt, wenn echte Kunst gerade verhöhnt wird.”

Kathlyn will kontern, doch die Fremde lässt ihr keine Sekunde.

“Sie haben ein bemerkenswertes Talent, Menschen zu erniedrigen, um sich größer zu fühlen. Das sagt mehr über sie aus als jedes Zitat von Camille Pagila, das sie heute auswendig gelernt haben.”

Sie klingt enttäuscht, wie eine Mutter zu ihrem Kind.

Dann wendet sie sich ganz Lana zu. Ihre Körperhaltung vermittelt, dass sie schon wieder vergessen hat, dass Kathlyn überhaupt existiert.

Sie streckt ihr die Hand hin, als sei das das Natürlichste der Welt.

“Jamie Halden.”

Lana zögert. Nimmt die Hand. Sie ist kühl, trocken, fest.

“Lana Rosenthal.”

Ihre Stimme ist heiser, klein.

Kathlyn stürmt davon, flieht fast.

“Ich weiß. Ich habe Ihren Namen in der Liste gesehen und mir Ihre Bilder sehr bewusst angeschaut.”

Sie nickt zu den drei Bildern.

“Sie haben Schmerz transformiert. Nicht nur gezeigt. Das schaffen die wenigstens.”

Lana weiß nicht, was sie sagen soll. Ihre Lippen öffnen sich, aber sie hat kein Konzept für diesen Moment.

Also murmelt sie: “Danke.”

Und meint damit alles: Dass sie gesprochen hat. Das sie Kathlyn zum schweigen gebracht hat ohne laut zu werden. Das sie ihre Kunst versteht.

Jamie lächelt.

Nicht mitleidig. Nicht übertrieben. Einfach: echt.

“Ich würde Ihre Bilder gerne kaufen.”

Eröffnet Jamie ihr.

Lana ist überrascht.

Aber dafür hat sie wenigstens einen Plan. Die Kuratorin hat darauf bestanden.

Lana wollte 50 Euro für jedes Bild haben. 100 wenn sie sich gut fühlte.

Die Kuratorin bestand auf mindestens 300 pro Bild.

“Sind dreitausend für alle zusammen genug?”

Lana bricht der Boden unter den Füßen weg.

“Das ist zu viel,” versucht sie zu protestieren. Ihre Stimme zum ersten mal fest.

“Unsinn,” Jamie lächelt, “Ich kenne Ihre Arbeit. Ich habe sie online gesehen. Sie bleibt haften. Und ich glaube, Sie sind noch nicht einmal bei 10% von dem, was Sie können. Wenn Sie erstmal bekannt sind, und das werden Sie, werden diese drei Bilder ein echtes Schnäppchen gewesen sein.”

Lana merkt, dass Jamie wirklich glaubt was sie sagt.

Sie fühlt sich das erste mal seit langer Zeit gewertschätzt. Und wie eine Hochstaplerin.

Jamie scheint es zu merken.

“Wie wäre es damit. Dreitausend Euro für Ihre drei Bilder und Sie gehen mit mir einen Kaffee trinken. Ein exklusives Meet & Greet mit der Künstlerin. Ich bin neugierig auf das, was zwischen Ihren Bildern nicht sichtbar ist.”

Es klingt nicht wie eine Frage. Aber auch nicht wie eine Forderung. Es ist eine Feststellung. Sachlich.

Lana nickt. Langsam.

Nicht weil sie es bewusst will. Sondern weil es sich für einen Moment lang nicht falsch anfühlt.

Und das ist mehr, als sie erwartet hat.

“Wunderbar.”

Jamie wirkt erleichtert.

“Hier ist meine Karte. Melden Sie sich einfach, wenn Sie Zeit haben. Ich werde mit der Kuratorin über ihre Bilder sprechen.”

Sie greift in ihren Anzug und reicht Lana einen Umschlag.

“Dies ist ihr Geld. Und falls sie noch mehr ihrer Bilder verkaufen wollen, lassen sie es mich wissen.”

Als sie den Umschlag annimmt, deutet Jamie eine Verbeugung an.

“Es war mir ein Vergnügen, Miss Rosenthal.”

“Lana reicht,” erwidert sie.

Jamie lächelt.

“Lana.”

Es klingt komisch aus Jamies Mund. Aber mit ihren Nachnamen angesprochen zu werden fühlte sich einengend an.

Sie lässt den Umschlag in ihrer Handtasche verschwinden.

Plötzlich fühlt sie sich sehr müde.

Vielleicht kann sie diese Nacht doch schlafen.

Sie verschwindet aus der Galerie als die Kuratorin drei ”VERKAUFT” Schilder neben ihre Bilder klebt.

Das kurze Gespräch was sie noch miteinander führen, bekommt Lana gar nicht mehr richtig mit. Aber die Kuratorin scheint glücklich zu sein.

Ihr Thermosbecher ist noch da als sie geht.

Sie nimmt ihn und macht sich auf den Heimweg.

Zum ersten mal seit langem spürt sie echte Hoffnung.

Aber Hoffnung ist gefährlich.