Die erste Bewegung des Morgens ist ein Ausweichen. Um vor der immer heller werdenden Sonne zu flüchten zieht Lana sich die Decke über den Kopf und versucht so den Tag und die ganze Welt von sich auszusperren. Eine weiche Mauer zwischen sich und der Tatsache, dass sie heute Abend eine Künstlerin sein muss. Aber unter der Decke ist es stickig und sie hat nur noch mehr das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Mit einem Keuchen schiebt sie die weiche, viel zu große Decke von sich herunter und ergibt sich dem Tag. Das Sonnenlicht drängt sich durch die schiefen, halb geschlossenen Jalousien, vorbei an der Tasse mit kaltem Kaffee vom Vortag bis zu ihr als würde es sie unbedingt erreichen wollen. Das Licht kommt an, aber die Wärme bleibt auf der Strecke.
Ein Blick auf den Digitalwecker neben ihrem Bett verrät ihr, dass es 17 nach 10 ist. Eine Kurze Nacht. Ihr träger Versuch aufzustehen gipfelt darin, dass sie nun zehn Zentimeter näher an der Bettkante liegt, auf dem Bauch, das Gesicht halb in einem der vielen Kopfkissen vergraben. Es riecht staubig, nach kaltem Schweiß und vielleicht ein wenig Resthoffnung.
Heute ist die Ausstellung.
Allein der Gedanke daran löst ein Chaos an Gefühlen aus die dafür sorgen, dass sie lieber hier liegen bleiben würde. Der Magen, der sich vor Angst zusammen zieht. Der Hals, der einen hoffnungsvollen Klos hat. Druck. Wegen drei Bildern an einer grauen Wand. Die Kuratorin der Galerie war nett. Jung, ambitioniert und voller Optimismus. Ein bisschen zu viel für Lana. An anderen Tagen hätten sie vielleicht Freunde sein können. Es ist eine Sammelausstellung, lokale Künstler aus dem Viertel. Vermutlich nicht das richtige für ihre Bilder. An anderen Tagen hätte sie sie ganz ok gefunden, heute sind sie ungenügend. Aber sie hängen da. Seit Gestern. Ein Zeichen, dass sie existiert, dass sie etwas macht.
Etwas was sie zeigen kann. Oder muss.
Sie versucht sich abzulenken, zählt die Geräusche ihrer Wohnung. Das knacken in der Decke, das Brummen des Kühlschranks, der leise Verkehr vor dem Haus. Es hilft nicht. Ihr Magen beschwert sich, aber sie will nichts essen. Der sanfte Schmerz des leeren Magens tut gut. Lenkt ihre Gedanken aus ihrem Kopf zu ihrem Bauch.
Sie versucht sich aufzuraffen, dreht sich auf den Rücken. Ihr Bein berührt etwas, ein lautes Klatschen. Lana zuckt erschrocken zusammen. Ihr Zeichenblock, vermutlich. Ziemlich sicher. Sie konnte nicht einschlafen. Wie so oft. Sie zeichnete im Bett. In der Dunkelheit, nur sie und ihre Gedanken. Keine gute Mischung, aber eine kreative. Bis vier? Oder fünf? Bis sie zwar nicht müde, aber erschöpft war. Und der traumlose Schlaf kam.
Ihr Bein hängt über das Bett, berührt den abgelaufenen Dielenboden, ihre Zehen spüren die abblätternde Farbe. Irgendein Vormieter hatte das schöne Holz Weinrot gestrichen. Viel war davon nicht übrig. Der Kontakt mit dem Boden erdet sie. Sie will das nicht. Es zieht sie in den Tag, zur Arbeit, Pflichten. Zur Ausstellung und Menschen denen sie ihre Kunst erklären muss. Ihr Gekritzel.
Vielleicht fällt das heute alles aus. Denkt sie hoffnungsvoll. Vielleicht ist das Wetter zu schlecht. Oder zu gut. Oder ein Stromausfall. Oder Krieg. Sie fühlt sich schlecht bei dem Gedanken. Aber nur ein wenig.
Sie presst ihre Augen zu.
Und dann kommt der Gedanke, der alles schlimmer macht. Der Grund für ihre Schlaflose Nacht. Wird Kathlyn da sein?
Sieben Monate ist die Trennung jetzt her. Sieben Monate hat sie sie nicht gesehen. Nicht direkt. Auf Events taucht sie seltener auf. Bei ihren letzten beiden Ausstellungen hat sie Lana nicht die Luft zum Atmen genommen.
Zwei Mal.
Ein winziger Rekord.
Vielleicht hat sie endlich aufgehört. Vielleicht hat sie die Lust daran verloren Lana klein zu treten, wann immer sie sich aus den Schatten traut. Vielleicht ist ihre neue Freundin aufregender, bunter, funktionaler. Nicht vielleicht, ganz sicher. Kathlyn hat daran keinen Zweifel gelassen. Lana hat es kaputt gemacht. Sie war zu emotional abhängig, zu einengend, zu toxisch. Kathlyn hatte versucht sie zu retten und sie hatte es kaputt gemacht. Sie verstand noch nicht ganz was sie falsch gemacht hatte aber ihre Freunde hatten Kathlyn recht gegeben. Vielleicht war es also endlich vorbei und Kathlyn lebte ihr leben weiter.
Anderseits.
Warum sollte sie ausgerechnet heute nicht auftauchen?
Sie stellt sich vor wie Kathlyn dort steht, vor ihren Bildern – mit einem Glas Prosecco, einem Lächeln wie eine Rasierklinge, und diesem Tonfall, den alle sofort für Ironie halten, obwohl er nur pure Verachtung ist. “Oh – du malst noch? Wie schön.”, als würde man mit einem Kleinkind reden, “Ich dachte du wärst jetzt bei Tarotkarten angekommen.” Lana zieht die Decke wieder fester an sich und hebt den Fuß vom Boden. Ihr Herz schlägt unglaublich laut obwohl nichts passiert ist. Nichts. Noch nicht.
Und dann ist da dieser andere Gedanke. Einer, der sich von ganz hinten in ihrem Kopf nach vorne drängt, wie ein Fremdkörper.
Vielleicht ist es egal. Vielleicht ist das, was ich da zeige, sowieso nur Gekritzel. Vielleicht ist es sogar gut, wenn Kathlyn es zerreißt. Dann muss ich wenigstens nicht mehr so tun, als hätte es Bedeutung.
Sie hasst diesen Gedanken. Und sie glaubt ihm trotzdem.
Um sich nicht weiter selbst zu hassen steht sie lieber auf. Sie hebt den zerknitterten Zeichenblock auf und legt ihn neben den Wecker. Dann schlägt sie die fünf Kopfkissen auf und drapiert sie ans Kopfende. Das Bett zu machen bedeutet Kontrolle über ihr Leben zu haben. Ordnung in das Chaos zu bringen und das Gefühl zu haben normal zu sein. Jeder macht sein Bett, nur Leute die aufgegeben haben lassen es unordentlich. Und sie hat nicht aufgegeben. Noch nicht. Sie greift die Bettdecke, zwei Meter zwanzig breit, und schlägt sie auf. Ihr Kugelschreiber fliegt durch den Raum und fällt klimpernd auf den Boden. So viel zur Kontrolle. Sie lässt die Decke liegen und geht zum Kugelschreiber um ihn aufzuheben und zu ihrem Zeichenblock zu legen. Damit drückt sie ein paar mal auf den Knopf und hört sich das beruhigende Klacken and wenn die Miene herausfährt und wieder rein. Dann auf ein neues. Sie schlägt die Decke auf, lässt sie wie ein Leichentuch über das große Familienbett, in dem sie jede Nacht alleine liegt, niedergleiten und streicht es glatt. Eine passende Metapher. Vielleicht denkt sie noch so oft an Kathlyn weil sie dieses Bett gekauft hat. Nach einem Streit weil Lana ihr gesagt hatte, dass sie unglücklich damit sei, dass sich dauernd mit dieser Frau aus dem Theaterbereich treffe. Kathlyns neue Freundin. Kathlyn hatte erwidert, dass sie einfach nicht monogam fühlen könne und Lana hatte ihr vorgeworfen sie zu betrügen. Kathlyn hatte sie rausgeworfen und sich eine Woche nicht bei ihr gemeldet. Dann hatte sie ihr diese Bett geschenkt. Um ihr zu zeigen, dass sie sie lieben würde, auch wenn sie immer so emotional und anhänglich sei. Vermutlich war es nicht gut das Bett zu behalten. Aber ein neues war Teuer, und ihr fehlte das Geld. Ihr fehlte immer das Geld. Deswegen hatte Kathlyn so viel bezahlt. Auch viele ihrer Tattoos. Viele nach einem Streit. Weil sie sie trotzdem liebte. Kathlyn war ihr wortwörtlich unter die Haut gegangen.
Sie riss sich von ihrem Gedanken los und wandte sich von Kathlyns Bett ab.
Vielleicht war es Zeit doch etwas zu essen. Funktionierende Menschen taten so etwas nach dem Aufstehen. Ihre Altbauwohnung war nicht groß. Das Bad und ihr großes Zimmer mit kleiner Kochnische. Trotzdem fühlte es sich nicht wie Zuhause an. Ihr Zimmer wirkte leer und chaotisch zugleich. Die Möbel waren bunt zusammengewürfelt und die Pflanzen passten auch nicht so ganz ins Bild. Vielleicht weil sie immer wieder eingingen und sie deswegen neue kaufen musste.
Im Bad sah drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht um wach zu werden. Es klappte nicht wirklich. Ein Blick in den Spiegel verriet, dass sie noch immer Augenringe hatte. Seit sie sechzehn war. Vermutlich gehörten sie einfach zu ihr. Ihr dunkelbraunes Haar hatte schon fast wieder ihre Schultern erreicht, vermutlich sollte sie es mal wieder schneiden. Wenn sie sich endlich trauen würde sie richtig kurz zu schneiden könnte sie auch die letzten Reste rötliches Haar abschneiden die von ihrer Haarfärbung übrig waren. Aber sie war sich nicht sicher, ob ihr eine Kurzhaarfrisur stehen würde.
Wenigstens würden die misslungenen Haare und die Augenbrauen von ihren restlichen Mängeln ablenken. Unreine Haut, zu große Ohren, zu kleine Brüste und dünne Arme. Sie wand ihren Blick vom Spiegel ab und besah sich stattdessen ihre Blumen-Tattoos auf den Armen. Viele hatte sie schon vor Kathlyn gehabt. Sie hatte sie selbst gestaltet, aber leider waren es nur die Konturen. Das Geld um sie in Farbe zu stechen zu lassen hatte sie nie gehabt. Trotz der Freundschaftspreise, die sie bekam weil sie für den Tätowierer oft umsonst Entwürfe zeichnete. Wenn sie es sich leisten könnte würde sie ihren ganzen Körper tätowieren lassen, in bunten Farben, bis sie hinter den Motiven ganz verschwand. Das war der Traum an dem sie sich klammerte. Der Grund warum sie weiter ihre Bilder in Galerien aushing. Die Hoffnung, dass irgendwann jemand sie entdecken würde und sie welche ihrer Bilder verkaufen konnte.
So wie bei Lara.
Lara hatte es geschafft. Eine Galeristin hatte sie entdeckt und ihr eine ganze Ausstellung gewidmet. Ein Magazin hatte sie gefeatured und sogar ein kleiner Lokalsender hatte über sie berichtet. Die Menschen mochten ihren Stil. Und Lana hatte genau den gleichen!
Sie hatten sich beide auf einem Rave kennengelernt, behangen mit Neonlichtern. Sie hatten sich sofort gut verstanden. Zeichneten zusammen, besuchten mehr Raves, rauchten auf der Fensterbank während sie zusammen versuchten herauszufinden wer sie waren. Lara und Lana, zwei verlorene Mädchen, Anfang zwanzig, in der Großstadt. Sie waren Seelenverwandte und wurden sich immer ähnlicher. Bis es fast gruseliger wurde. Lara begann Lanas Stil zu kopieren. Ihre Kleidung, ihr Makeup, sogar wie sie sprach. Ihre Zeichnungen glichen ihren immer mehr bis man meinen könnte sie würden vom gleichen Künstler kommen. Dann wird Lara entdeckt. Und erst ist alles gut. Sie hängen weiter zusammen rum. Stellen ihre Bilder zusammen aus. Bis jemand Lara auf die Ähnlichkeiten der Bilder anspricht. Wir suchen uns doch alle irgendwo Inspiration. Und ich freue mich wenn ich die sein kann. Hatte sie gesagt. Lana hatte versucht sie darauf anzusprechen. Doch Lara wich immer wieder aus. Der Kontakt brach ab und Lara verschwand. Zumindest aus Lanas Welt, in Magazinen und auf Plakaten blieb sie präsent. Eine ständige Erinnerung daran, dass man es schaffen konnte. Und daran wie austauschbar und wenig besonders Lana doch war.
Sie springt unter die Dusche und lässt das heiße Wasser auf sich nieder prasseln. Fast zu heiß, also genau richtig um ihre Gedanken aus dem negativen zu ziehen. Sie duscht lange. Vermeidet es in Richtung des großen Spiegels über dem Waschbecken zu gucken um sich nicht selbst sehen zu müssen. Inmitten des prasselnden Wasser ist es fast als wäre sie körperlos. Und das ist fast als würde man nicht existieren. Sie trocknet sich ab und schminkt sich dann. Nur ein wenig. Weil man das eben so macht.
Dann zieht sie ein schlichtes, schwarzes Sommerkleid and und geht in ihre Küche. Sie schmiert sich ein Brot. Erdnussbutter und Marmelade. Ein langweiliger Klassiker aber er macht wirklich glücklicher. Während man ihn isst. Das Geschirr stellt sie in die Spüle, dafür ist morgen auch noch Zeit. Während sie Kaffee kocht zieht sie die Jalousien nach oben und öffnet das große Fenster um sich auf die Fensterbank zu setzen und eine zu Rauchen. Der Verkehr ist jetzt lauter, aber die Luft ist noch nicht so abgestanden. Vermutlich wird es heute noch wärmer. Sie holt ihr Handy raus und schaut auf die Wettervorhersage. Neunundzwanzig Grad, in der Nacht Regen und Gewitter. Das Wetter ist also zu gut und zu schlecht. Wie passend. Sie liked ein paar Stories, schreibt ein paar Nachrichten mit Leuten zu denen sie nur aus Gewohnheit Kontakt hält und die sie nie getroffen hat.
Als ihr Kaffee fertig ist sind es zwei Zigaretten geworden. Sie füllt sich einen Thermosbecher, keine Ahnung wo sie ihn her hat. Dem Aufdruck nach überteuert von irgend einem Festival. Ihre Zigaretten packt sie in ihre Handtasche. Und Flyer. Für die Ausstellung heute Abend. Die Galeristin hatte sie gebeten sie an ihre Freunde zu verteilen. Hat sie nicht. Sie will versuchen sie Fremden in der Innenstadt zu geben.
Mit einem letzten, wehmütigen, Blick in ihre Wohnung schließt sie die Tür und geht.